! Aktualisiert am 28. Januar 2019
Silke Noll ist interkulturelle Trainerin und lebt in Wellington. Deutschland hat sie trotzdem nie richtig verlassen, denn sie berät Auswanderer, die in Neuseeland eine neue Heimat suchen. Für euch hat Silke einen Beitrag zum Nachdenken geschrieben: Wie ist das, wenn man nach Neuseeland auswandert? Ist Neuseeland das Paradies, von dem so viele träumen? Wie verwirklicht man den Traum vom neuen Leben?
Früher, da war mein heutiges Leben ein großer Traum. Wenn man in Europa lebt, ist es so einfach, über Grenzen zu reisen und in anderen Ländern zu arbeiten und zu leben. Erst wenn man in ein Land außerhalb der EU auswandern will, wird einem bewusst, dass das gar nicht so einfach ist. Und dass die „richtige“ Ausbildung und ein sauberes Vorstrafenregister ausschlaggebend sein können.
Doch was passiert mit dem Traum, wenn man ihn umgesetzt hat? Und welche Träume haben wir noch, nachdem wir den „großen Sprung“ gemacht haben?
Das Gefühl als frisch eingewanderter Auswanderer ist überwältigend. Wir haben soeben die Welt erobert, nichts kann uns mehr stoppen! Schließlich haben wir alle Stimmen um uns herum ignoriert, die unkten: „Tut es nicht!“, „Ihr könnt doch nicht alles aufgeben!“, „Das kann doch gar nicht klappen!“, „Wollt ihr euch nicht ein Hintertürchen offenlassen?“
Dass ich mich in den ersten Wochen aufgrund des Kiwi-Englisch, das ich noch nicht so gut verstand, kaum traute, den Telefonhörer auf der Arbeit abzunehmen – kaum erwähnenswert. Ich fühlte mich häufiger missverstanden als in anderen Ländern Europas, in denen ich gelebt hatte. Mit der Zeit wurden die kulturellen Unterschiede „down under“ und in Europa klarer.
Es gibt das Ding hier am anderen Ende der Welt, und das in Europa.
Auswandern nach Neuseeland: So ist es wirklich
Bevor man nach Neuseeland kommt, unterschätzt man die Unterschiede. Irgendwie fühlt sich Neuseeland wie bei uns an. Westlich. Sicher. Ist es ja auch. Und dann?
Dann schlägt der Alltag zu. Als Auswanderer in Neuseeland hat man von nun an drei Stimmen in sich (Achtung, ich übertreibe ein wenig):
den Deutschlandverherrlicherden Neuseelandverherrlicher
den Selbstreflektiven
Was nervt den Deutschlandverherrlicher im Allgemeinen an Neuseeland?
- Hier gibt’s nix! Kein IKEA, kein ALDI, Lidl, dm… Alles ist sauteuer und Auswahl gibt es auch nicht. Ganz zu schweigen von der Qualität!
- Diese Doppelmoral! Die stellen sich an, wenn sie in die Sauna gehen… mit Turnschuhen und Sportklamotten! Auf der anderen Seite scheint Sex der unausgesprochene Nationalsport zu sein.
- Ein bisschen mehr Nachdenken wäre manchmal empfehlenswert, anstatt einfach nur zu tun. Hier läuft oft so viel schief!
- Abends einmal gemütlich bis in die Puppen zu sitzen, das fehlt mir. Die Neuseeländer brechen meist nach dem Abendessen gleich auf und gehen nach Hause.
- Ich finde es unmöglich, dass ich nicht planen kann, wenn ich Leute nach Hause einlade. Ich weiß bis zum Ende des Abends nie, wer kommt.
- Weihnachten können die hier einfach nicht. Stimmung kommt null auf.
- Wie die hier mit der Umwelt umgehen… eine Schande.
- Können die nicht einfach mal sagen, was Sache ist, anstatt immer um den heißen Brei herumzureden?
- Dieses passiv-aggressive Verhalten, das der Unfähigkeit, Kritik zu üben und zu empfangen, folgt…
- Die schlecht gebauten Häuser!!
- Es gibt kaum Urlaubs- und Krankheitstage. In Deutschland bekomme ich mehr Urlaub und auch mehr Geld, um etwas mit meinem Urlaub zu machen.
- Neuseeland wird klein, wenn man hier lebt.
- So richtig tiefe Freundschaften gibt es hier nicht.
- Freunde und Familie fehlen mir sooooo sehr.
Was nervt den Neuseelandverherrlicher im Allgemeinen an Deutschland?
- Ich bin ja gar nicht so deutsch. Irgendwie war ich schon immer mehr neuseeländisch.
- Diese weite Natur!
- Winter in Deutschland kann ich nicht mehr. In Neuseeland kommt im Winter wenigstens fast täglich auch mal die Sonne durch.
- Ich kann nicht mehr ohne das Meer leben. Eine Wohnung im vierten Stock in der Innenstadt? Kann ich nicht mehr!
- Die Kinder scheinen hier glücklicher zu sein. Sie lernen, mit der Natur zu leben.
- Das lockerleichte Geplapper an der Kasse oder mit dem Nachbarn mag ich viel lieber als die Anonymität in Deutschland.
- Arbeiten, um zu leben, nicht leben, um zu arbeiten!
- Diese Hilfsbereitschaft der Menschen!
- Ich kann total auf den mürrischen Deutschen verzichten, der mich mit Killerblick von der Seite anmacht, ohne dass ich etwas von ihm wollte.
- DIY! Ich kann mich hier selbst verwirklichen und liebe es, mein eigenes Brot zu backen, meine eigenen Möbel zu bauen…
- Wer braucht deutsche Häuser in Neuseeland? Hier ist das Klima anders, Temperaturen kaum unter 0° Celsius, „where’s the problem“?
- Ich liebe das Improvisationstalent der Kiwis! Das löst irgendwie alle Probleme. „No worries!“
- Deutschland ist ein goldener Käfig mit all seinen Versicherungen etc., ein Wohlfühlpaket mit Nichtausstiegsgarantie. Stichwort: freiwillige Pflichtversicherung.
- Nie wieder das deutsche Steuersystem!
- Die Deutschen denken viel zu viel über alles nach. Macht doch mal einfach! Anpacken! „Go for it!“
- In Deutschland ist erst einmal alles verboten. All diese Regeln und Gesetze!
- Diese ganzen Statussymbole, Autos, Uhren, Karriere…wer braucht das? Ich kann hier einfach ich selbst sein!
- Also was da in Europa gerade abgeht, da brauch ich nicht dabei zu sein!
Und der Selbstreflektive?
Wie war das noch mit unseren Träumen? Der Selbstreflektive spürt die beiden anderen Stimmen in sich. Welche der beiden das Engelchen und welche das Teufelchen ist, das kommt auf die Person an. Die meisten von uns sind sich bewusst, dass es das „Paradies Neuseeland“ nicht wirklich gibt. Dass Neuseeland aber verdammt nah am Paradies dran ist – wenn wir es zulassen. Das könnte aber auch in Deutschland so sein, wenn wir ehrlich zu uns sind.
Vieles im Leben ist eine Entscheidung. Auswandern, in ein anderes Land ziehen, glücklich sein…
Ausgewandert – und dann?
Viele von uns, die in Neuseeland leben, gehen regelmäßig nach Deutschland zurück, um die „Perspektive zurechtzurücken“. Wieder schätzen zu lernen, was wir an Neuseeland haben. Nachdem wir uns durch alle Köstlichkeiten deutscher und europäischer Regionen durchgespeist und alle dm-Produkte aufgekauft haben. Das große Überlebenspakt nach Neuseeland kommt kurz vor der Abreise zur Post. Meist brauchen wir nur ein paar Wochen in der alten Heimat, dann sind wir wieder reif für die Insel ;-)
Viele von uns sind auch einfach nur Reisende und sehen sich gar nicht so gern als „Auswanderer“. Wir leben einfach in dieser Welt. Es ist nicht ausgeschlossen, auch einmal wieder woanders zu leben. Wieso muss man sich auf ein Land festlegen? Vielleicht gibt es ein Land für jede Lebensphase? (Übrigens zieht es die meisten Menschen mit steigendem Alter wieder zurück zur eigenen Kultur, in der wir aufgewachsen sind.) Manche ziehen auch zwischen Neuseeland und Deutschland hin und her.
Der Mensch mag ja immer das am meisten, was er gerade nicht hat.
Für mich persönlich ist das Leben ein Flow, im Fluss. Meine Träume ergeben sich von Jahr zu Jahr und aufgrund der Lebensumstände. Neuseeland hat mir Möglichkeiten gegeben, von denen ich in Deutschland nur hätte träumen können. Und da ich hier weiter träumen kann und meine Träume sich hier zu erfüllen scheinen, möchte ich erst einmal bleiben.
In Neuseeland und in Deutschland leben und arbeiten zu dürfen, ist ein Luxus, den nicht viele Menschen auf dieser Erde haben. Für viele sind die beiden Stimmen, die ich oben beschrieben habe, unerreichbar. Und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen sind sie glücklich.
Glücklich sein ist eine Entscheidung.
In dem Land zu leben, in dem du leben willst – wenn du die Möglichkeit dazu hast, kann sie glücklich machen. Auch die eigene Kultur macht glücklich, und sie wird uns nie wirklich loslassen, auch wenn manche gern so tun, als ob.
Was sind deine Träume in diesem Jahr?
Danke für diesen nachdenklich machenden Gastbeitrag, liebe Silke!
Wollt ihr mehr von Silke zum Auswandern und Leben in Neuseeland lesen?
Dann schaut euch ihr Buch Wahlheimat Neuseeland* an, oder folgt ihrem Blog.
- Neuseeland mit Kind Karte: mehr als 450 Tipps für Familien auf Google Maps! - 25. Oktober 2024
- DOC Campsite Pass in Neuseeland: Lohnt er sich für Familien? - 5. Oktober 2024
- Zürich mit Kindern: Geht das auch günstig? - 12. September 2024
Sehr guter Blogbeitrag. Wir haben auch mal über das Auswandern nachgedacht. Damals machten wir uns auch darüber Gedanken, dass NZ auf die Dauer ganz schön klein und vor allem arg weit weg ist.
Danke für den ehrlichen Beitrag.
liebe Grüße
Gabi
Super geschrieben!
Das hätte von mir kommen können – nein, nicht weil ich mich selber loben will, sondern weil das genau meine Gedanken zum Auswandern sind. Natürlich könnte ich nicht für Neuseeland sprechen, aber bspw. für die USA. Nahezu die selben Dinge könnte ich da ähnlich auflisten und diese verschiedenen Sichtweisen beschreiben.
Es hat mich sehr bestätigt in meiner Sichtweise und meinem Denken über das Thema Auswandern. Klasse.
Falls ich darf und es interessiert: hier unsere Gedanken https://www.kindimgepaeck.de/auswandern-leben-in-usa-mit-kind/